… ausgeplaudert von Heinz Küsgens
Ausrufen war damals ein harter Job!
„Du bist noch keine 18! Deshalb kannst Du in diesem Jahr noch nicht mitgehen!“ Das sagte mir eiskalt Franz Burtscheid 1949, einen Monat bevor ich 17 wurde und schickte mich wieder heim. So hart waren zu dieser Zeit die Gepflogenheiten im Nassauer Jungenspiel. Ein Jahr später wurde ich dann – auch noch nicht 18 – mit großem Wohlwollen in den Kreis der Ausrufer aufgenommen.
Zur Vorbereitung wurde Wochen vorher an mehreren Abenden in der Gaststätte Müller in Vorweiden geprobt. Gegen diese Abende im April war die Probe eines Männergesangvereins eine Lustveranstaltung, denn dieser besagte Franz Burtscheid, von allen ebenso geliebt wie respektiert, stellte hohe Anforderungen an die Sangeskunst und war in der Lage, harmoniebedürftiges Burschengegröle in wenigen Wochen zu einem anhörbaren Jugendchor zu formen. Assistiert wurde er dabei von Gottfried Jahn mit seinem „Quetchbüll“ (Akkordeon). Wenn die Bemühungen von Franz nicht direkt zum Erfolg führten, kam Gottfried mit dem moralischen Trick und sagte: „Wollt er üsch dann nu beij de Mädschere blamiere“? Das half sehr schnell und so war sichergestellt, dass am Samstag vor der Weidener Frühkirmes (Salmanuskirmes, 1. Sonntag im Mai) eine anhörbare Gesangsgruppe durch Vorweiden zog.
Sehr gut in Erinnerung ist auch, wie bei den Proben sehr peinlich auf die konsumierten Getränke geachtet wurde. Nix Bier unter 18, es gab Limo oder Sprudel. Wer Bier trinken durfte, bestellte sich aus Sparsamkeit ein „Tülpchen“ für 20 Pf.; das war ein ½ Bier (0,1 L) in einem kleinen Glas mit nach innen gewölbtem Rand, ähnlich der früheren Colagläser.
Nun muss man wissen: Bierverbot war zu jener Zeit keine sonderliche Strafe für einen Jüngling. Wann sollte man auch zum Biertrinken verführt worden sein?
Zu den Saalveranstaltungen hatte man als Jugendlicher nur in Begleitung Erwachsener Zutritt und die achteten weniger intensiv auf die Trinkgewohnheiten des Nachwuchses. Kirmes war zwar eine Ausnahme. Da konnte man auch als jugendlicher Pritschenjunge ein Bier erwischen. Insbesondere dann, wenn die Erwachsenen in vorgerückter Stunde schon „abgefüllt“ waren. Und das war dann wohl der vermeintliche Übergang zum Erwachsensein (oder auch nicht, wenn der erste Rausch Gottlob recht nachhaltig ausfiel!)
An dem besagten „Ausrufsamstag“ wurde ein Heuwagen mit Birken und Girlanden geschmückt und dann begann eine lange Nacht bereits um 17.00 Uhr, wenn mit dem Treckergespann das Ausrufen in den Außenbezirken Merzbrück und Gut Klösterchen begann.
Gesammelt wurde damals als Gabe der Mädchen: Eier, Speck, Getränke, Rauchwaren und Geld. Das Gesangsritual bei den jeweiligen Maibräuten war zu dieser Zeit viel länger und gepflegter als heute üblich und so zog sich bei ca. 50 – 70 „Ausrufstationen“ das Brauchtum bis nachts gegen 2.00 – 3.00 Uhr hin.
Hierbei muss man wissen, dass auch die älteren, alleinstehenden Damen mit einem Ständchen beehrt wurden und es keinen Datenschutz gab, der uns behinderte und die Frechheit nahm, auch bekannt gewordene heimliche Lieben zu outen, wobei wir natürlich so diskret waren, dass wir uns das eigene Geschäft verdarben. (In noch früheren Jahrzehnten ging es auf diesem Gebiet grausamer zu. Da legte man mit Sägemehl eine Fährte zwischen den Wohnungen illegaler Pärchen.)
Auch haben wir hin und wieder abkassiert, wenn uns ein Jüngling mit Naturalien bestach, weil er unbedingt mit einer bestimmten Schönheit ausgerufen werden wollte. Anlass hierzu war der Brauch und das Recht des Jünglings, die Maibraut am nächsten Tag zum Maiball abzuholen. Entweder war dies ein „Amorus Überrumpulus“ des Verliebten gegenüber dem Mädchen oder sogar ein Komplott des bis dahin heimlich verliebten Paares gegenüber den Eltern.
Kommen wir aber noch einmal zurück zu den älteren Jungfrauen im Ort. Einige von ihnen wollten nicht nur ein Ständchen, sondern partout mit einem Mann ausgerufen werden. Dafür musste immer als Partner der Witwer. W. Kinkartz (Vater des kürzlich verstorbenen Seniors) herhalten. Er wurde in einer Mainacht oft 10 x „gepaart“, was den älteren Damen wohl gefiel. Auch ihm brachten wir regelmäßig ein Ständchen. Dazu wurde in aller Stille das Tor seines Hauses auf der Jülicher Str. geöffnet und im Innenhof haben wir dann herzerweichend gesungen. Als Lohn standen hinter dem Tor stets Kartons mit Süßigkeiten bereit.
Der mitgeschleppte Maibaum war der Maikönigin der Hauptkirmes zugedacht. Sie stand bereits vorher fest. Noch 50 Jahre früher war das anders. Da wurde die Königin erst in der Nacht gekürt und zwar die eifrigste Spenderin bekam diese Ehre. Aus organisatorischen und insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen hat sich dies wohl im Laufe der Zeit geändert. Unser Maibaum war der Königin der kommenden Sommerkirmes zugedacht und auch der einzige Maibaum, der im Ort am nächsten Tag steckte.
Er wurde nach dem Ausrufen zu ihr gebracht und dort gab es immer noch einen kleinen Umtrunk. (Die heutige Sitte, Maibäume der Geliebten zu stecken, ist erst später aufgekommen. Der Brauch wurde offensichtlich aus dem Jülich/Dürener Raum übernommen. Von dort kommen auch die inzwischen beliebten Steckkissen). Nach dem letzten Ausruf schleppte man sich zum Restaurant Mennicken, wo bereits vorher ein Teil der gesammelten Geschenke abgeladen worden waren. Dort wartete eine riesige Pfanne Speck mit Ei, die uns wieder fit machte.
Einige Geschenke (wie Zigaretten) wurden aufgeteilt, das Geld bekam der Kassierer, die Getränkeflaschen wurden beim Wirt eingetauscht und wer am Ende was trank, war in vorgerückter Stunde nicht mehr kontrollierbar. Das hing auch damit zusammen, dass uns der Ausklang des Ausrufens selten etwas kostete.
Oft saß der oben erwähnte Herr Kinkartz sen. schon im Restaurant, wenn wir kamen. Er hatte eine riesige Freude ob unserer Ausgelassenheit und zeigte sich stets sehr spendabel.
Wenn wir dann so gegen 5-6 Uhr heimwärts zogen, war das meist kein Renommee für uns und den Ort. Nicht, weil wir unsere überschüssige Kraft in Form von Sachbeschädigungen ausließen, nein, da gab es ein ungeschriebenes Gesetz, das lautete: Nicht an Blumen und Gärten vergreifen, nichts beschädigen und nur dann Gegenständen einen unverhofften Ortswechsel verschaffen, wenn man sie mit den Händen tragen konnte. Im Klartext bedeutete dies z. B.: Wir wussten im Laufe der Jahre, welche Fensterschläge zu Fensterschlägen anderer Häuser passten, auf neudeutsch: Welche untereinander kompatibel waren. Eine schöne Überraschung für die Hausbesitzer. Abends grüne zu schließen und morgens rote zu öffnen. Aber das ist nicht mit dem negativen Renommee gemeint. Das ergab sich aus einer anderen Situation. Der angebrochene Sonntag war der Salmanussonntag. In Weiden wurde der Hl. Salmanus als Heiler für Asthma- und Lungenkranke verehrt und da zogen aus vielen Orten des Bistums Pilger nach Weiden und davon sehr viele zur ersten Messe um 6 Uhr. Die ersten Einwohner, denen die Pilger im Ort begegneten waren lautstarke Jugendliche mit Gartentörchen, Gartenzwerge o. ä. auf den Schultern.
Die Vorweidener Maijungen haben vermutlich über Jahrzehnte diese Mainächte ohne sonderliche Schäden (Langzeitschäden sind schwer nachweisbar) überstanden, weil die Pilger sie vor Entsetzen mit in ihr Gebet einschlossen.
Wenn alle Mädchen ausgerufen sind, versammeln sich die Maijungen wieder in dem Lokal, von dem aus sie den Umzug begonnen hatten und in dem auch später der Maiball veranstaltet wird. Die gesammelten Gaben werden zum Teil dem Altenheim übergeben, zum Teil unter den Maijungen verteilt. Der gespendete Alkohol wird schon konsumiert und das Geld dient als Grundstock für die Ausgaben, die durch den Maiball oder das Jungenspiel entstehen. Der Maikönigin wird ein Birkenbusch, mit bunten Bändern geschmückt, auf das Hausdach gesteckt. Inzwischen wird jedem Mädchen ein Birkenreis ans Haus geheftet.
In früheren Jahren nahten sich schon laut betend die Salmanusverehrer am frühen Morgen unserem Ort und freuten sich mit darüber, dass an mehreren Häusern buntgeschmückte Birkenreisige hingen. An verschiedenen Häusern hatte man sogar den Maistrauß am Schornstein oder an der Dachrinne befestigt. Die Pilger stellten aber auch schnell fest, welches Mädchen nicht gebefreudig gewesen war, obwohl man sich hier in früher Morgenstunde eifrig mühte, Häcksel und Teer zu entfernen.
An einem der folgenden Sonntage im Mai wird dann der Maiball veranstaltet.
In Abstimmung und nach Übereinkunft mit allen Jungenspielen des Ortes wird die Sommerkirmes meist in den Monaten Juli oder August, jedenfalls vor oder nach den Schulferien gefeiert.
Das Jungenspiel und alle anderen Spiele der früheren Gemeinde Broichweiden ziehen zunächst in festlichem Zug – ohne die Mädchen – zur Pfarrkirche St. Lucia. Voraus geht der Pritschenmeister in weißer Leinenhose, weißem Hemd, weißen Schuhen und Strohhut, um den ein künstlicher Eichenkranz gebunden ist. Er trägt wie die übrigen Maijungen die Schärpe in blau-weiß, den Farben von Nassau, von der rechten Schulter zur linken Hüfte und hat die Pritsche am rechten Handgelenk hängen. Die Pritschenjungen, die hinter ihm gehen, sind ebenso gekleidet, nur tragen sie die Schärpe quer um die Taille und habe keinen Kranz an den Strohhüten. Es folgen ein Musikzug mit Trommlern und eine Kapelle mit Blechbläsern, hinter denen die Fahnen des Jungenspiels in den Vereinsfarben getragen werden. Dann folgen die Fahnenschwenker, das sind besonders geübte, junge Leute, die für die Jungenspiele engagiert werden. Das Fahnenschwenken hat in ganz bestimmten Bewegungen eine weit zurückreichende Tradition. Offenbar ist dies bei den Spielen der Pritschenjungen, die erst nach dem Kirchgang einsetzen, auch der Fall. Hinter den Fahnenschwenkern geht der Maikönig in schwarzem Anzug mit Zylinder, um den ein goldener Kranz geschlungen ist, und mit Schärpe. Hinter ihm geht der Maiknecht, ebenfalls im schwarzen Anzug und Zylinder, um den ein silberner Kranz geschlungen ist. Auch er trägt eine Schärpe. Jetzt kommt der Zug der Maijungen, in Sonntagsanzügen, mit Strohhüten und Schärpen. Die Pritschenjungen bilden vor dem Kirchenportal mit erhobenen Pritschen Spalier, unter dem das ganze Jungenspiel in die Kirche einzieht, um hier nach einem festlichen Gottesdienst die Kirmes zu beginnen.
Schon am Tag vorher, dem Samstag also, hatte man auf dem Friedhof der verstorbenen und gefallenen Bürgern des Ortes gedacht und einen Kranz niedergelegt.
Nach der Festmesse versammeln sich die Jungenspiele des Ortes und alle Schaulustigen vor der Kirche, wo nach einer Walzermelodie die Fahnenschwenker die Fahnen kunstvoll schwenken. Es ist schon sehenswert und erstaunlich, wenn die Fahnenschwenker eine große Fahne mit kurzem Stiel andauernd auf kunstgerechter Weise um Kopf und Leib und zwischen den Beinen hindurch schwenken und in die Höhe schnellen.
Nach dem Fahnenschwenken zieht das Jungenspiel durch einige Straßen des Ortes und schließlich zum Festzelt. Die Mädchen gesellen sich jetzt zu den Jungen. Der Maikönig führt an seiner rechten Seite die Maikönigin und an der linken das ihm sonst zugehörige Mädchen.
Der Maiknecht hat ebenfalls zwei Begleiterinnen: eine war früher das Mädchen des Pritschenmeisters, der sich wegen seiner vielen Pflichten nicht um sie kümmern konnte. Im Festzelt wird zum Frühschoppen und Tanz aufgespielt.
Gegen 5.00 Uhr nachmittags, treffen sich die Maipaare wieder im Festzelt. Von dort aus holen sie im Zuge mit klingendem Spiel den Maikönig oder die Maikönigin von ihrem Hause ab.
Dort werden Sie mit einem Trunk bewirtet, und dann geht es – wie am Vormittag – mit Musik durch den Ort. Die Mädchen tragen festliche Kleider. In den Händen halten sie Blumen, Luftballons oder Sonnenschirmchen. Während des Umzuges grüßen Jungen und Mädchen recht freundlich die Zuschauer am Straßenrand. Auf dem Weg zu den Festplätzen wird kurz in den am Wege liegenden Gastwirtschaften eingekehrt. Dann spielt die Blasmusik, und die Fahnen werden geschwenkt. Die Pritschenjungen gehen jetzt nicht mehr hinter dem Pritschenmeister, sondern springen neben dem Zug her oder durch ihn hindurch und schlagen beim Springen unter dem hochgeworfenen Bein hindurch mit der Pritsche in die andere Hand. Einige geben ihre Pritschen dem Pritschenmeister in Verwahrung und begleiten den Zug mit Radschlagen.
Heute begleiten viele Jungen und Mädchen mit festlich geschmückten Fahrrädern das Jungenspiel. Fehlen darf schließlich auch nicht die Schützenbruderschaft, die sich einem der Spiele anschließt.
Der festliche Umzug an den Kirmestagen beschränkt sich nicht nur auf den Sonntag, auch am Montag und Dienstag wird er fortgeführt. Dabei werden das Altenheim, heute Seniorenheim genannt, besucht, um hier den Bewohnern ein Ständchen zu bringen.
In den späten Abendstunden besuchen Maikönig, Maikönigin, Maiknecht, Fahnenschwenker sowie eine Abordnung der einzelnen Jungenspiele sich gegenseitig in ihren Zelten. Dort werden Grußworte ausgetauscht und ein Ehrentrunk gereicht.
Am Kirmesdienstag führt der Maikönig zu Mitternacht die ganze Tanzgesellschaft in einer Polonaise an und leitet das Begräbnis des Jungenspiels ein. Eine Literflasche Branntwein wird eingegraben, meist in der Nähe des Maibaumes beim König oder der Königin. Diese Flasche bleibt bis zur nächsten Kirmes liegen und wird schließlich zum Beginn der neuen Kirmes ausgegraben.
Aus dem hier Geschilderten wird deutlich, wie sich Jungenspiele über Jahrhunderte hinweg trotz häufiger Verbote als echte Überlieferung alten Volkslebens bewahrt haben. Es mag manches an seinem ursprünglichen Sinn und an der Buntheit seiner Ausgestaltung verloren haben. Bis in die Gegenwart ist es aber ein Volksfest geblieben, das einmal im Jahr eine Stadt wie Würselen und seine Stadtteile zu einer echten Gemeinschaft zusammenschließt.